Fritz Zwicky und die morphologische Methodik
Dr. Roland Müller

"Die Welt hat eine neue Variante des 'Renaissancemenschen' nötig." Dies behauptete kein Geringerer als Jay W. Forrester, der Erfinder der Systems Dynamics und der "Grenzen des Wachstums" Anfang der 70er Jahre.

Was sind 'Renaissancemenschen'?  Nach Forrester "Individuen, die sich zwischen geistigen Disziplinen bewegen können, die viele Gebiete und ihre signifikanten Interrelationen begreifen können."

Ein grosser Renaissancemensch war z.B. der Florentiner Leon Battista Alberti, Athlet und Jurist, Künstler und Physiker, Schriftsteller und Päpsteberater, Ökonom und Architekt, ja sogar Ökologe - ein "uomo universale" im besten Sinne.  Bekannter sind Leonardo da Vinci und Paracelsus.

Ein solcher kraftvoller und vielseitiger Mensch war auch Fritz Zwicky.  Er hat Paracelsus hoch verehrt.  Es ist schon ungewöhnlich, wenn ein Astrophysiker und Raketenforscher eine Vortragsreihe an der ETH (1956) oder einen in Pasadena erschienenen Sammelband über "Morphology of Propulsive Power" (1962) mit einem Loblied auf Paracelsus beginnt.  Das kann und darf nur einer, der selber ein 'Renaissancemensch' ist.

Was zeichnet den 'Renaissancemenschen' aus?  Er denkt und handelt in "allumfassender Weise", er hält "immer grösste Perspektiven" vor seinem geistigen Auge. Dabei darf es nicht bei blosser Stubengelehrsamkeit oder geistiger Akrobatik bleiben, sondern der "universelle Ausblick" muss in Handlung, Leistung umgesetzt werden.  "Die Notlage ist derart", meinte Zwicky schon Mitte der 50er Jahre, "dass wir wie zu Zeiten des Paracelsus eine neue Art des Denkens und neue Methoden der Lebensführung brauchen, falls eine globale Katastrophe vermieden werden soll."

Den 'Renaissancemenschen' zeichnet also zweierlei aus: ganzheitliches Denken und ganzheitliches Handeln.  Sie werden zusammen wirksam in der ganzheitlichen Lebensführung.

Die Sache hat nur einen Haken: Die meisten von uns sind keine 'Renaissancemenschen', vielmehr unwillig und unfähig zu einem ganzheitlichen Leben. Wir denken und handeln fragmentarisch und oftmals paradox. Wir haben nicht die Kraft zum Überblick, und unser alltägliches Verhalten ermangelt der Konsequenz.

Auch Zwicky war kein vollkommener 'Renaissancemensch'. Ihm fehlte z.B. die Einsicht in die Einseitigkeit auch seines Standpunktes und ein Verständnis für die Psychologie des Menschen und des Zwischenmenschlichen.  Aber er hat sich um ganzheitliches Denken und Handeln bemüht. Und das können auch wir. Freilich stossen wir dabei auf zwei Schwierigkeiten: unsere Unfähigkeit und den Widerstand der anderen.

Zwicky hat das 1973 in seinem letzten grossen Vortrag mehrfach deutlich ausgedrückt; z.B.: "Die meisten unter uns sind immer noch beduselt von den Fortschritten in Wissenschaft und Technik.  Nur wenige haben erkannt, dass die Nebenwirkungen dieser vermeintlichen Fortschritte unsere Existenz gefährden, ja drohen, ihr Ende herbeizuführen. Für diejenigen unter uns, die nicht mehr geneigt sind, mit dem Schicksal zu spassen, gilt es kompromisslos alle katastrophalen Umstände zu beleuchten und mit dem Ziel unserer Existenzbehauptung alle Mittel einzusetzen, diese Umstände aus der Welt zu schaffen. Jeder hartgesottene Realist weiss, dass es nur relativ wenige Einsichtige gibt, die auch den Willen haben, dabei mitzumachen. Ihnen entgegenarbeiten werden die ungeheuer vielen Blödiane, die nur auf sich eingestellten und Mammon verfressenen Individuen sowie die nach Macht lüsternen."

Wer diese Schilderung als masslos übertrieben oder hysterisch empfindet, kann sich an die zweite Aufgabe halten, die Zwicky formuliert hat: Existenzentfaltung. Paracelsus, Pestalozzi, Dufour, Pasteur und Nansen beispielsweise "taten ihr Äusserstes, um die Resultate ihrer Forschungen für die Bereicherung des Lebens der Gemeinschaft zu verwerten."

Ob wir den Ritt zum Abgrund anhalten oder das Gemeinschaftsleben bereichern wollen - wir brauchen dazu ganzheitliches Denken und Handeln. Eine Grundlage dafür sind Systemdenken und Kybernetik.
Es braucht aber auch Methoden. Zur selben Zeit als Systemdenken und Kybernetik entstanden, d.h. in den 30er und 40er Jahren unseres Jahrhunderts, tauchten auch neue Kreativitäts- und Problemlösungsmethoden auf, z.B. Brainstorming und Spieltheorie, Operations Research und Entscheidungstheorie. Zwicky hat davon lange Zeit kaum Kenntnis genommen.  Er entwickelte damals seine Morphologie im Alleingang.

Mit allem, was daraus hervorgegangen ist, können wir diese Morphologie als praktiziertes ganzheitliches Denken" fassen. Das Praktizieren bedeutet zweierlei: 1. Vorgehen beim Denken, also vorwiegend am Schreibtisch, und 2. ganzheitliches Handeln in der Berufspraxis und im Alltag, im zwischenmenschlichen Bereich.

Zuerst zum Denken. Die morphologische Methodik dient dem Erarbeiten eines Überblicks (gr. synopsis) und der Gewinnung von Ideen.  Das erfordert zweierlei: (1) Ein Vorgehen in Etappen oder Stufen und (2) den Aufbau von Denkgerüsten.

Das Vorgehen in Etappen ist weitherum bekannt.  Seit der Jahrhundertwende wurden hiefür immer wieder Vorschläge gemacht.  Die Fülle ist unübersehbar. Die Spannweite reicht von 2 bis 19 Stufen des kreativen Prozesses oder der Problemlösung. Zwicky selber hat in der zweiten Hälfte der 40er Jahre in mehreren Anläufen 3 bis 8 Stufen unterschieden.

Als Gedächtnishilfe können wir sie uns mit den Buchstaben SPOKE-PEN merken (SPOKE ist die Sprosse, PEN ist ein Pferch)

  • Suchen, Sammeln, Fragen
  • Prüfen auf Vollständigkeit
  • Ordnen, Gruppieren, Zusammenstellen, Umstellen
  • Kombinieren
  • Eliminieren von unmöglichen Lösungen
  • Prüfen auf grundsätzliche Realisierbarkeit
  • Evaluation, Bewertung der einzelnen Kombinationen
  • Nutzung der Ergebnisse: Wahl der optimalen Lösung, Bau eines Prototyps, Realisieren durch Aktion, Gestaltung.

Als Hilfsmittel bei diesem Vorgehen dienen Denkgerüste oder  Ordnungsraster. Zu ihrem Aufbau kann man zwei Meinungen vertreten: Er ist ungemein kompliziert oder er ist kinderleicht. Das Grundprinzip jedenfalls ist einfach.

  1. Wir können beliebige Sachen oder Sachverhalte aufzählen, in Gruppen zusammenfassen oder einer höheren Klasse unterordnen.  z. B. Äpfel, Birnen, Bananen, Pflaumen, Pfirsiche usw. Einige sind Kernenfrüchte oder Steinfrüchte, andere, nicht. Oberbegriff ist Obst. Dem könnten Gemüse, Beeren, Nüsse und andere "Gewächse" entgegengestellt werden usw.

    Mit solchen Klassifikationen und darauf aufbaubaren Begriffspyramiden haben sich schon die Alten Griechen herumgeschlagen.  Die wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzungen damit füllen seither Bibliotheken.

    Für die morphologische Denkpraxis wichtig ist ein etwas modifizierter Ansatz, nämlich die Suche und Auflistung von Gesichtspunkten, unter denen Sachen und Sachverhalte betrachtet werden können. Von den Sachen her gesehen sind es Aspekte. Man kann auch von Kategorien, Modi oder Dimensionen sprechen.  Wissenschafter, Techniker und auch Fritz Zwicky benützen gerne den Begriff  Parameter. Jeder Parameter hat mehrere Ausprägungen oder Elemente (Komponenten)  oder Abschnitte.

    Die Bestimmung dieser Parameter richtet sich nach dem Gegenstand, den man untersucht oder nach dem Problem, das man sich zu lösen vorgenommen hat. Die Kunst der Morphologie fängt also hier an. Dazu ist alles vorhandene Wissen einzusetzen. Die bisherige Berufs- und Lebenserfahrung muss schon hier in die Denk-, Planungs- oder Erfindungsarbeit eingehen.

    Die Schwierigkeiten liegen also wie fast überall am Anfang. Als Leitspruch dient zur Aufmunterung: "Frisch gewagt, ist halb gewonnen." Einige geläufige allgemeine Gesichtspunkte und Aspekte habe ich auf einer Liste zusammengestellt.

    Bis dahin haben wir uns vorwiegend im eindimensionalen Raum bewegt.  Morphologie bedeutet nun eine Horizonterweiterung. Der morphologische Gerüstbau stösst in 2, 3 oder mehr  Dimensionen vor.

  2. Stellt man beliebige Klassifikationen oder Parameter einander rechtwinklig gegenüber, erhält man eine Matrix. Diese spannt ein zweidimensionales Feld von Zeilen und Spalten auf.  Nun sind zwei Arten von Matrizen möglich. Solche mit (a) demselben Parameter und solche mit (b) zwei verschiedenen Parametern.

    Für den Fall (a) hat Zwicky mehrmals zwei Beispiele gegeben:
    (a) die Beziehungsmatrix für Körper, Phänomene und Ideen und, als Ausschnitt daraus (2) die Totalität aller Energieumwandlungen.
    (b) Der Fall mit zwei Dimensionen ist weitherum bekannt. Beispiele aus dem Managementbereich sind etwa die Funktionsanalyse, das Verhaltensgitter oder die Produkt/Markt-Matrix. Es gibt unzählige Spielarten solcher Matrizen, von statistischen Tabellen bis zum Periodensystem der chemischen Elemente. Zwei interessante Beispiele von Zwicky betreffen die Negation von Eigenschaften und die Multisprachenlehre.

    Auch seine Methode der Extreme lässt sich als sog. 4er-Raster darstellen. Durch Einführung je einer "mittleren" Kategorie pro Parameter ergibt sich ein 9er-Raster, beispielsweise für die Gruppierung aller möglichen Systeme. Auch sämtliche Methoden, die der Mensch kennt, lassen sich in einen 4er-Raster pressen.  Für die Analogiemethode leistet eine zweidimensionale Matrix gute Dienste, in welche die Kulturbereiche (plus Natur) einfliessen.

  3. Die Einführung einerdritten Dimension resp. eines dritten Parameters führt zu einem Würfel. Zwicky hat erstmals 1946 einen solchen für Triebwerke gezeichnet.  Die drei Parameter betreffen:
    a) drei Arten von chemischen Reaktionen als Antrieb (Propellant)
    b) drei Möglichkeiten der Schubverstärkung (Thrust augmentation)
    c) vier Möglichkeiten der Bewegung von Maschinenteilen (Motion of engine parts).

    Man kann das Ergebnis wie einen Aktenschrank mit Schubladen zeichnen. In jedem Fach ist Platz für ein Triebwerk. Entweder ist es schon gebaut oder man könnte es bauen.
    Solche Würfel oder Kästen lassen sich für allerlei erstellen, beispielsweise für die Darstellung eines Unternehmens oder für die Finanzinstrumente an den Börsen.

  4. Verfeinerungen dieserWürfel sind möglich. Man kann einen 4. Parameter einführen. Das bedeutet eine Unterteilung der Fächer. Das ist nicht mehr so gut zu zeichnen.

    An diesen Punkt hatte Zwicky eine geniale Idee. "morphologische Kasten". Er klappte den Würfel auseinander und schrieb die Parameter zeilenweise untereinander. In die Spalten kommen die einzelnen Ausprägungen (Arten, Möglichkeiten) oder "Elemente" des Parameters. Das gibt Zeilen unterschiedlicher Länge, ist also keine Matrix mehr, sondern der legendäre Alles vorher Skizzierte, samt dem Würfel, der wie ein Kasten aussieht, sind strenggenommen keine "morphologischen Kästen", sondern nur Vorstufen dazu.

    Wie stelle ich nun dar, was vorher das Fach einer Schublade war? Durch eine Kette, die je ein Element pro Zeile mit einem Element aus der darunterliegenden Zeile verbindet. Auf englisch: "Every chain one solution."

    Damit eröffnet sich ein riesiges Feld von möglichen Kombinationen. Ihre Gesamtzahl ergibt sich aus der Multiplikation der Anzahl Elemente pro Zeile. Zwicky fing für seine Triebwerke mit dem Würfel an, der 36 Fächer enthielt. Durch die Erweiterung im morphologischen Kasten brachte er es in 5 Jahren auf 36 000 Ketten resp. Kombinationen. Knapp ein Drittel davon ist allerdings aus physikalischen Gründen sinnlos.  Die morphologische Kunst besteht nun darin, aus den übrigen 25 000 die interessantesten oder zukunftsträchtigsten herauszugreifen und diese anhand von Kriterien zu bewerten. Dafür muss eine Submorphologie hergestellt werden.

    Kriterien können etwa sein: Preis, Leistung, Funktion, Sicherheit, Ökologie, Ästhetik, Handhabung, Herstellungszeit usw.

    Diese Evaluation kann  eine mühsame Angelegenheit werden. Das ist wohl der Hauptgrund, warum sich viele bald von der morphologischen Methodik abwenden und in die alten Geleise des Vorgehens zurückfallen.

    Wohlverstanden, dies liegt nicht an der Methodik, sondern am Aufwand und Einsatz, den sie erfordert. Und damit tun wir uns oft schwer. Weshalb? Weil uns oft das Ziel fehlt, weshalb wir die ganze Übung durchfuhren. Wer kein klares Ziel vor Augen hat, dem ermangelt meist Kraft und Ausdauer- etwas durchzuziehen.

Morphologie als "praktiziertes ganzheitliches Denken" erfordert also auch Ziele. Für die Denkarbeit habe ich sie bereits genannt: Überblick und Ideenfindung.  Dazu nochmals einige Beispiele: Paul Dubach hat vor 20 Jahren eine Übersicht über sämtliche möglichen Systeme gegeben. Andere Parameter sind denkbar. Eduard H. Schoch hat für Hausfrauen und Köche einen Ideenanreger zusammengestellt.

Ich habe vor ein paar Tagen mit einem morphologischen Kasten für die Werbung gearbeitet. Hier nur die ersten drei Parameter oder Zeilen: Ziel, Prinzip, Stil. Das Ziel Bekanntheit kann ich vermutlich mit massivem Einsatz und erotischem Stil erreichen, das Ziel Image wohl weniger. Passanten kann ich wohl kaum mit antizyklischen, akademischen Plakatwänden ansprechen, aber vielleicht mit Serien in futuristischem Stil. Das Durchspielen solcher Kombinationen kann mich jedenfalls auf Ideen bringen.

Gerade das Beispiel Werbung führt uns erneut zur Frage: "Wozu?" Ganzheitliches Denken ist nicht "ganz", wenn wir uns nicht die Frage "Wozu?" stellen. Die Besinnung darauf führt rasch in philosophische und religiöse Dimensionen. Sie gehören auch zum ganzheitlichen Denken. Dass die Mittel zum Zweck heute vielfach zum Selbstzweck geworden sind, ist seit 100 Jahren zunehmend beobachtet worden. Schon Hans Vaihinger stellte fest: "Die Mittel überwuchern den Zweck" (1911).  Das betrifft die Werbung genauso wie Innovationen und Unternehmensgewinne, Energieerzeugung so gut wie die Forderung nach "Ruhe und Ordnung", Besitz so gut wie Macht.

Mit solchen Reizwörtern stossen wir in den Bereich des menschlichen Handelns, des Forderns und Abwehrens, des Tuns und Unterlassens vor. Ist überhaupt ganzheitliches Handeln möglich und wie sähe es aus? Darüber haben sich auch ganzheitliche Denker noch kaum den Kopf zerbrochen.

Der Schritt vom Schreibtisch in die Lebenspraxis ist gross. Die 'Renaissancemenschen' haben ihn getan. Auch Zwicky. Er hat nicht nur Astrophysik betrieben, sondern auch beim Entwurf und der Konstruktion von Sternwarten und Fernrohren mitgewirkt . Er hat nicht nur mit 40 Jahren noch angefangen, Chemie und Raketentechnik zu studieren, sondern auch selber Hand angelegt im Zivilschutz und beim Raketenbasteln. Er war vom Zweiten Weltkrieg geschockt, hat aber nicht die Hände in den Schoss gelegt. Vielmehr entwarf er eine "Morphologie des totalen Krieges", um dem Spuk raschmöglichst ein Ende zu setzen. Darüberhinaus betrieb er ein Hilfsprogramm für kriegsgeschädigte wissenschaftliche Bibliotheken und packte im Laufe von 10 Jahren über 100 Tonnen Zeitschriften und Bücher zum Versand in alle Welt, eigenhändig, unterstützt von seiner Frau und einigen Freunden.

Kritische Zeitgenossen können hier einhaken und behaupten: Zivilschutz, Kriegsmorphologie, Bücherhilfe - das sei ja nur Symptomtherapie. Man müsse die Übel an der Wurzel packen, also beim Unfrieden unter den Menschen, bei Unterdrückung und Ausbeutung, bei Unwissenheit und Vorurteilen ansetzen.  Auch das hat Zwicky getan.

Wir können das, was er darüber verlauten liess, mit seinem Lebensgang in Verbindung setzen und daraus eine "Morphologie des ganzheitlichen Handelns" entwerfen. Dabei benützen wir als Denkgerüst das Bild der Wirkungsketten.  Es kann in ähnlicher Form als Entscheidungsbaum oder Flussdiagramm verwendet werden.

Grundlage für das ganzheitliche Handeln ist der Humanismus. Er lenkte schon die grossen Menschen der Renaissance. Aus Zwickys Publikationen und seiner Lebenspraxis lässt sich in einer ganz groben Skizze folgendes entnehmen:

  1. Oberstes Ziel des Menschen sollte die Schaffung einer "gesunden und schönen Welt", einer "decent organic society" sein. Da herrschen Freiheit, Frieden, Wahrheit und schonender Umgang mit den natürlichen Ressourcen.
    Aus diesen hehren Zielen lässt sich mancherlei ableiten oder umgekehrt: Alle menschlichen Bemühungen und Tätigkeiten sollten sich daraufhin ausrichten.
  2. Zwickys Formel "Jeder ein Genie" besagt nicht nur, dass jeder Mensch einzigartig, unvergleichlich und unersetzlich ist, sondern dass jeder seine ganz besonderen Talente hat.  Er muss diese herausfinden, entfalten und einsetzen. Im Klartext: Er soll seine Identität und seinen Weg suchen und tun, wozu er im Guten veranlagt ist, nicht einfach einen Job erledigen.
    Das Ausleben des eigenen Genies ist nicht, was wir heute "Selbstverwirklichung" nennen. Es bedeutet vielmehr: über partikuläre Interessen und eigennützige Zielsetzungen hinauswachsen.
    Wer sein potentielles Genie nicht in der Gemeinschaft verwirklicht hat oder nicht entfalten kann, ist dauernd frustriert und unzufrieden und nimmt deswegen an der Gesellschaft Rache.
  3. Analoges gilt für Unternehmen und Institutionen, Rassen und Völker. Alle haben ein potentielles Genie, ihre Eigenart, die immer wieder verwirklicht werden muss.
  4. Unablässig hat Zwicky gegen die "Verirrungen des menschlichen Geistes", also Dogmen, Vorurteile und Aberglauben, gewettert, auf Pfuscherei hingewiesen, Schwindelei und Heuchelei verurteilt.  Alle Übel der Welt müssen eliminiert werden.
  5. Als Prinzipien oder Grundsätze gelten die Menschenwürde und Menschenrechte, Vorurteilslosigkeit, Gerechtigkeit und Solidarität.
  6. Für den ganzen Menschen hat Zwicky die Formel "free world agent of democracy" geprägt. Das ist ein "freier Vertreter der Weltdemokratie" oder ein Kämpfer für eine freie, demokratische Welt. Das erfordert Offenheit ("Lege die Karten auf den Tisch", "Nenne das Kind beim Namen"), Geduld und Beharrlichkeit ("Nüd lugg lu gwünnt"), Mut und Redlichkeit ("audacter et sincere").
  7. Ganze Menschen betrachten und achten andere Menschen als Ganzheit. Das bedeutet: Jede ehrliche Überzeugung Andersdenkender akzeptieren (Toleranz), Bedürfnisse, Ziele und Interessen, Gefühle und Lagen der andern ernst nehmen (Respekt).

Das führt zwangsläufig zu Demokratie und demokratischer Planung einerseits, Dialog, Verhandlung und Zusammenarbeit anderseits, erfordert aber Aufklärung und Schulung.

Auf dem Hintergrund des bisher Skizzierten sind das mehr als Schlagworte. Lange bevor es Bürgerinitiativen gab, hat Zwicky der "konstruktiven Zusammenarbeit von Laien, Erfindern und Forschern" das Wort geredet. Für "die Wichtigkeit der Aufklärung und die Mitarbeit aller Menschen" hat er z.B. 1966 "unter Hunderten von Beispielen" zwei herausgegriffen: Smog und Landesplanung.  Und die Frauen waren auch dabei.

Dem Mann aus dem Volk, dem Abwart, dem technischen Zeichner, der Sekretärin hat Zwicky stets grösste Achtung entgegengebracht.  Allerdings schritt er bei seinen Mitarbeitern radikal gegen "Unsauberkeit, Schlamperei und Nachlässigkeit" ein, weil solches meist zu Schäden an Gütern, Leib und Leben führt. Dabei ging er, wie stets, mit dem eigenen Beispiel voran. Er krempelte die Ärmel hoch und scheute sich nicht, Büros, Maschinen und sogar die Toilette "blitzblank zu putzen".

Ich muss zum Schluss kommen: Mittel und Methoden überschneiden und vermischen sich genauso wie das scheinbar Kleine und Grosse. Geputzte Toiletten, sichere Arbeitsbedingungen in der Fabrik oder Sternwarte und lehrreiche Briefmarkensammlungen hatten für Zwicky gleiche Bedeutung wie der Friede, der "alarmierende Gesundheitszustand und die mangelnde Ernährung in ausgedehnten Gebieten der Welt", die "Ungleichheit der verschiedenen Rassen" z.B. in den USA und die "weit verbreitete Korruption".

Vielleicht können nur 'Renaissancemenschen' diese riesigen Bögen schlagen.  Und vielleicht müssen wir wirklich die Welt von unten herauf putzen, wie Zwicky meinte. Das wäre ganzheitliches Denken in ganzheitliches Handeln umgemünzt.

Zwicky hat jedenfalls immer wieder Hochmut und Trägheit überwunden.  Kraft dazu verlieh ihm seine Vitalität und unbändige Lebensfreude. Zudem leuchtete ihm ein hohes Ideal: "eine freie, stabile und in sich befriedigt abgestimmte Kulturgemeinschaft".